Pronoia oder: Ist das Universum stets auf deiner Seite?

Letztens übte ich ein Yogavideo einer Lehrerin, die ich sehr schätze. Sie warf zur Vorbereitung auf die fordernde Yogaeinheit den Begriff »Pronoia« in den Raum: Gegenteilig zu »Paranoia« solle man sich vorstellen, die in der Praxis anstehenden Aufgaben hätte das Universum nur für einen selbst geschaffen.

Augenblicklich wurde mir klar, dass ich sie beide kannte, und auch beide als Anteile in mir selbst: die Paranoiker*innen und die Pronoiker*innen. Bekanntlich ist unter ersterem, so der Duden, eine Person zu verstehen, die unter krankhaftem Misstrauen leidet. »Pronoia« hingegen ist ein Neologismus, der noch nicht im Duden aufzufinden ist. Laut Wikipedia definierte der Schriftsteller und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, John Perry Barlow, Pronoia 1993 als »den Eindruck, dass das Universum eine Verschwörung zu deinen Gunsten ist«.

Besonders in der Yogaszene kenne ich viele Pronoiker*innen, für die alles »gut ist, wie es ist«, »eine Aufgabe ist, um zu wachsen« oder »so hat sollen sein«. Natürlich wollte die Lehrerin uns Mitübende mit diesem vorgeschalteten Gedanken unterstützen: Ein entspannterer, positiverer Blick auf fordernde Situationen lässt einen diese bekanntlich bravouröser meistern. Aber wie sinnvoll ist es wirklich, habe ich mich gefragt, Pronoiker*in zu werden und stets davon auszugehen, dass sich die gesamte Welt »verschwört«, um genau mir zu helfen?

Es erstaunt nicht, dass pronoische Gedanken bei Paulo Coelho vorkommen, der eine ganze Generation holistisch-spiritueller Suchender geprägt hat. In seinem Buch »Der Alchemist« von 1988 lässt er einen alten Mann diese Worte an einen Jungen richten: »When you want something, all the universe conspires in helping you to achieve it.« – »Wenn Du etwas willst, verschwört sich das gesamte Universum, damit Du es schaffst.« Während Susan Sarandon äußerte, dass eine pronoische Weltsicht dazu führen könne, dass die Dinge, die man für vorhergesehen hält, auch tatsächlich eintreten, also eine selbsterfüllende Prophezeiung werden, twitterte John Cleese bezüglich Donald Trump: »A pronoid person is someone who thinks, without any basis in reality, that everybody likes them.« – »Eine pronoische Person denkt, ohne Realitätsbezug, dass alle sie mögen würden.«

Pronoia, so lässt sich festhalten, kann als (über-)ambitionierte, manchmal magisch anmutende Weltsicht verstanden werden, die einen bereichern, aber auch ziemlich verblenden kann, und die wohl sogar zum Wahn werden kann, wie ihr Gegenstück, die Paranoia auch. Und wahrscheinlich haben alle von uns schon mal pronioisch anmutende Situationen erlebt, in denen man den Eindruck hat, dass alles und alle einem beistehen, und ja, sie sind sehr, sehr schön. Und ja, wenn man sich diesen Blick auf eine oft fragmentiert erscheinende Welt erlaubt, wird alles ein klein wenig sinnvoller. Aber sind solche Gedanken wirklich gesund und erstrebenswert, wenn sie sich zu einer allumfassenden Weltsicht ausformen?

Um auf den Yogakontext zurückzukommen, scheint mir, dass sich dort oft verschiedene Aspekte vermischen. Die Lehrerin vom Anfang des Artikels bezog sich beispielsweise wohl eher auf eine Fähigkeit, die man in der Neurowissenschaft »kognitive Neubewertung« (cognitive reappraisal) nennt. In einer Studie über Yogapraxis von Tim Gard et al. von 2016 ist nachzulesen, dass es bei kognitiver Neubewertung darum geht, Erfahrungen – seien sie körperlich, mental oder emotional – umzuinterpretieren, zum Beispiel, indem ein anstrengendes Erlebnis von Muskelermüdung als ein vorübergehender Zustand definiert und dadurch der Grad der Anstrengung abgeschwächt wird. Solche Umwertungsstrategien können nachweislich den negativen Einfluss langer und wiederholter neuroendokriner Aktivität verringern, die in Zusammenhang mit hohem Stress steht und haben somit durchaus Berechtigung. Es sind Strategien, die helfen können, mit den Aufgaben des Lebens besser umzugehen – vorausgesetzt wohl, man missbraucht sie nicht, um sich selbst zu Dingen zu zwingen, die man eigentlich gar nicht machen möchte.

Pronoia scheint aber in der Umgebung modernen Yogas nochmals andere Dimensionen anzunehmen. Einerseits erinnert es an eine bestimmte Form von Gottesglauben: Gottes Wege sind unergründlich, alles ist Vorhersehung, auch die »Prüfungen« auf dem Weg. Andererseits scheint darin ein modernes Karma-Verständnis auf, welches ebenfalls oft mehr auf einer christlichen Bestrafungs- und Belohnungslogik aufbaut, als auf altindischen Karmavorstellungen, die komplex und vielfältig sind und untrennbar mit dem Glauben an Wiedergeburt zusammenhängen, sich also keinesfalls nur auf das Diesseits beziehen. Es geht dabei also nicht primär darum, dass diese oder jene Sache, die einem zustößt, von gutem oder schlechtem Karma herrühren würde. Pronoia allerdings erscheint als eine »ich habe gutes Karma-Weltsicht«, also werde ich ständig vom Universum belohnt, egal, was mir zustößt. Eine Haltung, die natürlich etwas Positives, aber auch etwas sehr Ichzentriertes hat. Sich selbst in den steten Mittelpunkt des Universums zu rücken, birgt die Gefahr der Selbstüberschätzung und der mangelnden Reflexion über eigene Fehler und Fehleinschätzungen.

Ich sehe aber noch weiteren Aspekt des Pronoia-Themas: Ein solche Weltsicht kann – in moderater Form – auch als Fähigkeit gedeutet werden, sich gute, sinnvolle Geschichten über das eigene Leben zu erzählen. In der Psychologie wird das Können, seine Lebensgeschichte stringent zu erzählen, so dass ein roter Faden das Ganze durchwebt, als gesunde Eigenschaft bewertet. Mit der eigenen Lebensgeschichte in Verbindung zu sein und tagtäglich daran weiterzuweben, so dass sie für einen selbst Sinn ergibt, scheint mir tatsächlich als Grundlage für ein zufriedenes Dasein, sofern wir uns nicht Unsinn über uns selbst erzählen und uns total verblenden. Aber zu sehen, wo man grade steht, um die Dinge, die einem passieren, gekonnt zu nutzen und stimmig zu verwandeln, ist etwas Wertvolles. Vielleicht kann man es vergleichen mit der Fähigkeit, sich etwas richtig Leckeres zu kochen, mit den Zutaten, die eben grade da sind, die einem aber nicht unbedingt alle von Schicksal, Karma oder Gott zugespielt wurden.


Letztendlich liegen zwischen den aufgezählten Aspekten kleine, qualitative Unterschiede, die allerdings für die eigene Weltsicht, die eigene Neigung zur Selbstüberschätzung oder für die Entwicklung von Bescheidenheit bedeutend sein können. Der Clou scheint mir der Agens zu sein, also die Frage: Wer ist es, der hier aktiv ist? Nutzt du Methoden wie kognitive Neubewertung, wenn sie dir helfen können? Entwickelst du die Fähigkeit, dein Leben in eine stringente Erzählung zu verpacken, deine Rolle in dem, was dir zustößt ehrlich anzuerkennen und »Schicksalsschläge« darauf aufbauend gekonnt zu verstoffwechseln? Oder gibt es da eine Art passives Selbst, das nichts tut, sondern das Universum für sich arbeiten lässt und vielleicht auch Fehltritte als »hat eben so sein sollen« abtut und nichts daraus lernt? Eines ist sicherlich psychologisch wertvoll, das andere hat durchaus Verblendungspotenzial und ist die beste Grundlage für spiritual bypassing.

Der Themenkomplex an sich ist trotzdem ziemlich genial, denn letztlich kommen wir nicht aus und müssen zu Gestalter*innen unseres Lebens werden, was auch immer Unerwartetes passieren möge. Und ein bisschen selbsterfüllende Prophezeiung ist beim sich selbst gute Geschichten erzählen wohl auch dabei.

Was denkst Du darüber? Bist Du überzeugte*r Geschichtenerzähler*in oder doch Pronoiker*in?

** Herzlichen Dank an alle, die sich diesen Beitrag vorweg durchgelesen und ihn kommentiert haben!

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