Ein Text in Bewegung
Science Love-Story Teil I
»Wie alles begann«
Als ich 2015 mein umfangreiches Dissertationsprojekt begann, das 2022 als Buch mit dem Titel »Ein Text in Bewegung. Das Yogasūtra als Praxiselement im Ashtanga Yoga« veröffentlicht wurde, hatte ich viele Fragen.
Ich kann nicht sagen, dass ich jetzt weniger Fragen habe, nur andere.
Anfang 2014 hatte ich meine Magisterarbeit zur Rezeption des Yogasūtras, dieser bekannte, altindische Text (ca. 4./5. Jh. n.u.Z.), im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts abgeschlossen. Während meiner intensiven Arbeit daran, im Mai und Juni 2013, gab es in München starke, langanhaltende Regenfälle wodurch die Isar weit übers Flussbett trat. Jeden Tag fuhr ich in Regenkleidung in die Stabi, saß im Handschriften-Lesesaal, arbeitete teils sehr alte und mit achtsamen Fingern zu berührende Yogasūtra-Übersetzungen durch und lernte dabei noch viel mehr über deutsche Geschichte und meine eigenen Landsleute als über das Yogasūtra. Der Text wurde übersetzt, interpretiert, uminterpretiert oder auch zensiert und fungierte häufig als Inspirationsquelle für »Abendländer«, jedoch genauso häufig als Blaupause für eigene Ansichten.
Rezeptionsprozesse hielten diesen Text also von Beginn an in Bewegung.
Schon 2006, während meiner ersten Yogaausbildung, war ich in die »Ashtangas«, die acht Glieder des Yogasūtras eingeführt worden, die für mich kontextlos als eine Art „Leitfaden fürs Leben“ im Raum standen. Während meines Indologiestudiums ab 2010 veränderte sich durch ein Seminar mit Sanskritlektüre des Textes mein Blick auf das Yogasūtra vollkommen. Er wurde komplex, vielschichtig, kulturspezifisch, historisch. Gleichzeitig hochphilosophisch und mein Blick weitete sich auf so viel mehr als nur auf die »Ashtangas«. Im Zuge meiner Magisterarbeit übersetzte ich den Text dann einmal ganz ins Deutsche.
Von den Studien und Lektüren meines kulturwissenschaftlichen Nebenfaches, der Religionswissenschaft geprägt, wo ich mich auch das erste Mal in die aktuelle Yogaforschung einlas, kam ich 2015 um die Frage nicht mehr herum: Was wird eigentlich im Hier und Jetzt mit dem Text gemacht und warum? Und wie kam es dazu? Inwiefern hängt das Yogasūtra mit jenen oftmals auf Dehnung und Entspannung, manchmal aber auch auf Kraft und Stärke fokussierten Körperpraktiken namens Yoga zusammen, die ich in meinen Yogaausbildungen gelernt hatte und die von Krankenkassen bezuschusst werden? Sind heutige āsanas wirklich nur eine Vorbereitung für die „höheren Glieder“, für Konzentration (dhārana), Meditation (dhyāna) und diesen abgefahrenen Bewusstseinszustand namens samādhi, der mir nach der ausführlichen Beschäftigung mit dem Yogasūtra out of reach erschien, den aber viele Leute in meiner Yogalehrer*innen-Umgebung zu suchen schienen? Und besonders interessierte mich, ob beispielsweise Renate, die Physiotherapeutin und Mutter zweier Kinder, der āsanas eine nötige Auszeit vom Alltag, Entspannung und Selbstnähe schenkten, tatsächlich nach diesem Zustand suchte, und falls ja, wie? Ich wollte also ganz »normale« Yogaübende, die sich in einer Yogaausbildung befanden, befragen, was sie eigentlich mit diesem Text machten. Was er für sie bedeutete, was er ihnen mit auf den Weg gab. Sie ernst nehmen mit ihrer eigenen Erfahrung, auch wenn diese subjektiven Erfahrungen in einer wissenschaftlichen Arbeit natürlich nicht nur gesammelt, sondern auch interpretiert werden mussten. Und obwohl ich einige Eindrücke gewonnen hatte, wusste ich nicht wirklich, wo mich das alles hinführen würde.
Ich wollte meine zwischen Indologie und Kulturwissenschaft aufgespannte Dissertation also zu einer »lebensweltlichen Ethnographie«, so nennt man das, über die heutige Auslegung des Yogasūtras machen: Das beinhaltete, Interviews mit Lehrer*innen und Schüler*innen zu führen, Yogasūtra-Unterrichtsstrukturen zu erforschen, den individuellen Vernetzungen von Text und Körperpraktiken nachzugehen, gleichzeitig wollte ich aber auch die Körperpraktiken selbst und ihre Effekte nicht aussparen und in die Arbeit integrieren.
Dafür suchte ich mir einen bisher fremden Yogastil, das Ashtanga Yoga aus, da es sich schon in seinem Namen auf das Yogasūtra bezieht und im Gegensatz zu einigen neueren Stilen wie dem Yin Yoga eine rückverfolgbare Geschichte bis nach Indien hat. Die Arbeit musste also auch einen historischen Teil haben. Für dieses umfangreiche Projekt bekam ich dankenswerterweise ein dreijähriges Stipendium an einem Graduiertenkolleg an der FAU Erlangen-Nürnberg und konnte in Ruhe meinen Fragen nachgehen.
Was ich herausgefunden habe? Das kannst du in meinem Buch detailliert nachlesen. Auf 460 Seiten. Wie viele Leute das tatsächlich tun werden, ist mir schleierhaft. Daher hier eine kleine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse meiner Forschungsarbeit… Um euch das Nachlesen zu vereinfachen, verweise dabei immer auf die relevanten Seiten in meiner Arbeit. Also gerne in alles, was euch interessiert, genauer reinlesen!
Dazu mehr im folgenden Post mit dem Titel: »Yogageschichte II: Das Yogasūtra im 20. Jahrhundert und in der Krishnamacharya-Linie bis hin zum heutigen Ashtanga Yoga«.