Emanuelle Carrères »Yoga«
Eine Buchrezension
Emmanuel Carrères Buch ist ein ungewöhnliches Werk für jenes Themenfeld, das den Buchrücken ziert: »Yoga«. Während wohl die meisten mit Yoga befassten Bücher in das Genre der Praxis- oder Ratgeberliteratur einzuordnen sind, ist Carrères Buch zwar eine prosaische, gut lesbare, jedoch intellektuelle und zum Nachdenken anregende Lektüre.
Eigentlich, so schreibt der Autor wiederholt, sollte es ein »heiteres und feinsinniges Büchlein über Yoga« werden. Und obwohl der rote, wenngleich manchmal dünne Faden »Yoga« letztlich das gesamte Buch zusammenhält, geschieht dies auf eine andere Weise als erwartet. Der Erwartungsbruch wird vom Leben des Autors selbst, also vollkommen unvermeidlich in die Wege geleitet und trotzdem wird er von Carrère gekonnt narrativ inszeniert und das schafft er, obwohl von Anfang an bekannt ist, dass das mit dem heiteren und feinsinnigen Yogabüchlein nichts werden wird.
Zu Beginn des Buches begleiten wir den, wie wir erfahren, seit Jahrzehnten meditationserfahrenen und (Iyengar) Yoga übenden Autor auf seinem Vipassana-Retreat. Wir schlüpfen in seinen mal ruhigen, öfters aber unruhigen Geist hinein und lauschen inspirierenden Gedanken über Yoga und Meditation. Gegen Ende sitzen wir mit ihm auf einer kleinen griechischen Insel fest, inmitten einer tiefdepressiven Phase, zusammen mit vier syrischen Flüchtlingen, einer dort gestrandeten Professorin sowie all ihren Schatten. Und man muss sich eingestehen: Dieser Teil des Buches ist sogar noch anregender. Tatsächlich begleitet man Carrère eigentlich überall gerne hin. Nicht nur, weil er ein hervorragender, ehrlicher und selbstkritischer Erzähler ist, sondern besonders, weil Vipassana-Momente in wohl vielen Lebensrealitäten ungefähr so rar sind, wie sie in »Yoga« auftauchen, und man sich gerade deswegen verstanden fühlt.
Seine Reflexionen über Yoga werden schon auf dem Retreat gestört, weil die Realität hereinbricht: Während Politisches häufig in der Yogaumgebung ausgeblendet wird, spart Carrère weder den islamistisch motivierten Terroranschlag auf Charlie Hebdo aus, noch seine manisch-depressive Persönlichkeitsstörung, die ihm bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war. Im Folgenden scheint der Autor zur Antithese eines modernen, stets ausbalancierten, souverän auf den Wellen des Lebens reitenden »Yogis« zu mutieren. Seine psychische Talfahrt schildert der über 60-Jährige auf eine persönlich nahe, ja beinahe intime Art und Weise, die heute zur Social Media-Kompetenz dazugehört. Doch beschreibt der Roman eben nicht nur schön Ausgeschmücktes, wie auf Instagram üblich, sondern behandelt simple Banalitäten, fleischliche Lüste sowie tiefste menschliche Tiefen. Depression, viel Alkohol, Selbstmordversuche. Doch so sehr sich Carrère als unliebsamen Typen darstellen möchte, das Gegenteil stellt sich ein: Als Leserin schätzt man ihn zunehmend, und zwar genau für jene Einblicke in seine stinkenden Abgründe, so not instagrammable.
Carrères anfängliche Sehnsucht nach jenen hellen, klaren, reinen mentalen Zuständen, die er unter Rückgriff auf den »echten wahren Yoga« der alten Yogaschriften beschreibt, klingt nach den sich immer mehr offenbarenden Um- und Zuständen des Autors beinahe nach spiritual bypassing. Also nach einer Abkehr von den eigenen Problemen durch die Hinwendung zu einer besseren und spirituelleren Version seines Selbst, die jedoch nicht der Realität entspricht. Diesen außerweltlichen, ja beinahe heiligen Yogabegriff hinter sich zu lassen, ist nicht nur nötig, sondern auch heilsam. Als Carrère seine Vipassana-Reise antrat, kam er grade aus einer ungewöhnlich langen guten Phase seines Lebens. Die größeren Zusammenhänge seiner inneren Realität sahen jedoch vollkommen anders aus.
Ohne tiefer in inhaltliche Details zu gehen, möchte ich, als Teilnehmende aber auch (wissenschaftlich) Beobachtende der Yogaszene seit über 18 Jahren, diese Rezension mit ein paar letzten Gedanken abschließen. Mir sind sehr viele Geschichten des spiritual bypassings bekannt: »Yogische« Höhenflüge, die das eigene Dunkle, den vielzitierten »Schatten«, die Schmerz und Leid ausblenden. Ich habe Lehrer interviewt, die der Ansicht waren, bereits im Leben Erlöste zu sein und mit solchen gesprochen, die meinten, sie wären schon zu reinen Beobachter*innen ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Psyche, sogar ihres eigenen Selbst geworden. Erfolgserzählungen, wie sie in der heutigen Yogawelt häufig anzutreffen sind.
Carrère hingegen ermöglicht seinen Leser*innen dadurch, dass er sie auf seine ungewisse Reise mitnimmt, im eigenen Da-Sein anzukommen, wie dunkel, verstörend oder aussichtslos dieses auch immer grade aussehen möge. Eine solche Anerkennung des Status Quo scheint mir die absolute Basis zu sein. Für alles. Carrère beginnt, aus verschiedenen Traditionen, Methoden und Weltsichten diejenigen auszuwählen und zu nutzen, die ihm helfen, bei sich selbst anzukommen, sein Leben und sein Wesen ein wenig besser zu verstehen und darauf aufbauend das eigene Dasein so gut zu gestalten, wie es eben geht. Sei’ es die Einnahme von Lithium, seien es Meditationstechniken, sexuelle Erkundungen oder gymnastisch inspirierte moderne Yogaformen. Und geht tatsächlich ein Weg an einer solchen individuell maßgeschneiderten Herangehensweise und am trial and error vorbei?
Sein Ende findet das Buch in einer Abkehr von der alten Yogatradition, auch wenn sie heute noch als Hintergrundrauschen fungieren mag, und kulminiert in einem »female Turn«. Mit einem überraschenden Ausgang zeichnet der Autor leise die erstaunliche Entwicklung der Yogageschichte nach: Von einer meditativen, weltabgewandten, männerdominierten Methode hin zum weltzugewandten, körperlichen und weiblichen Yogaverständnis der Spätmoderne.
Viele, aber nicht alle Geschichten waren wahr, wie Carrère uns am Ende noch wissen lässt. Reales, Imaginiertes, Antizipiertes und Vergangenes stehen Seite an Seite und fließen zu jenem komplexen Etwas zusammen, das wir Leben nennen. »Yoga« ist ein Buch, das aufzeigt, wie wichtig und bereichernd eine literarische, künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Es befasst sich ernsthaft und wertschätzend mit diesem schillernden und vielfältigen Phänomen, vermag jedoch auch aufzuzeigen, dass Yoga nicht alles im Leben lösen kann. Und auch grade deswegen ist es spannend für jene Menschen, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen.