Die Augen fokussieren.

Driṣṭis: Woher sie kommen und was sie bewirken


Das Sanskrit-Wort dṛṣṭi kommt von der Verbalwurzel dṛś („sehen“) und bedeutet „Blick, Schauen, Sehen“. Dṛṣṭi­s (Drishtis) sind im heutigen Ashtanga Yoga neun Fokuspunkte der Augen (oder acht, je nach dem ob die rechte und die linke Seite als ein, oder zwei dṛṣṭis gezählt werden). Sie liegen entweder auf dem eigenen Körper oder im Raum und gelten als visuelle Konzentrationstechnik, die heute sogar häufig mit dem 5. und dem 6. Glied von Patañjalis aṣṭāṅgas, pratyāhāra (Sinnesrückzug) und dhāraṇā (Konzentration) in Verbindung gebracht wird.

Die dṛṣṭis im Ashtanga Yoga sind:

  1. nāsāgra (Nasenspitze)

  2. brūhmadhya (Punkt zwischen den Augenbrauen),

  3. nābhicakra (Nabel)

  4. aṅguṣṭhamadhya (Daumen),

  5. hastāgra (Handspitzen)

  6. pādayoragra (Fußspitzen),

  7. ūrdhvadṛṣṭi (nach oben im Raum),

  8. und 9. pārśvadṛṣṭi (zu beiden Seiten im Raum), so dass eine jede Position einen festgelegten dṛṣṭi hat.


Doch wo kommt diese visuelle Fokustechnik her, die sehr spezifisch für Pattabhi Jois’ dynamische, festgelegte Serien des Ashtanga Yogas zu sein scheint? Und was hat sie mit Patañjali zu tun?


Schaut man sich die wichtigsten Veröffentlichungen von Jois’ Lehrer Krishnamacharya und von Jois selbst an, also die Yoga Makaranda (1934) und die Yoga Mala (1962), findet man nur zwei driṣṭis: brūhmadhya und nasāgra. Jois schreibt: "(...) for the odd-numbered vinyasas, the gaze should be focused between the eyebrows and, for the even-numbered ones, the gaze should be on the tip of the nose." (2009: 43) Das Foto „Utthita Dakshina Parsvakonasana“ aus Krishnamacharyas Yoga Makaranda (2006: 96) zeigt zum Beispiel, dass er in utthita parśvakonāsana wohl auf nasāgra, die Nase schaut, vielleicht hat er die Augen aber auch geschlossen. In jedem Fall schaut er nicht auf die Fingerspitze (hastāgra), wie es heute im Ashtanga Yoga unterrichtet wird. Das ist ein erstes Anzeichen dafür, dass Jois entweder erst später mit der Vielzahl von Augenpunkten in Kontakt gekommen ist, oder sie erst in den späten Jahren seines Unterrichts einsetzte (mehr dazu im Folgenden).

Diese beiden dṛṣṭis, brūhmadhya und nāsāgra haben eine lange Geschichte in der indischen Kultur. Die Nasenspitze (und übrigens auch der Nabel) wird tatsächlich schon im Yogasūtra des Patañjali im Kommentarteil (Bhāṣya) im Zusammenhang mit dhāraṇā („Konzentration“) erwähnt, zwar nicht konkret als visueller, aber als geistiger Ankerpunkt, neben weiteren Orten (deśa) im Körper und im Außen, auf die der Geist fixiert werden kann:

Fixation (3.1) Fixation is fastening of the mind to [one] place: Fixation is fastening the mind by means of only [a modification of its] state to places such as the circle of the navel (nābhicakra), the heart lotus (hṛdayapuṇḍarīka), the light in the head, the tip of the nose and the tip of the tongue or to an external object.
— (Mallinson & Singleton, 2017: 299)

Konzentrationspunkte, die im Körper liegen, sind also ein alter Topos, während einer dynamischen Körperpraxis ausgeführt tauchen sie allerdings nach derzeitigem Wissensstand erst in den Jahrhunderten vor Krishnamacharya auf, zum Beispiel in der auf das Jahr 1737 datierbaren Jogapradīpikā (danke an Jason Birch für diesen Hinweis).

Doch auch dort finden sich nur die besagten zwei dṛṣṭis …


Hat Jois seine acht dṛṣṭis dann selbst erfunden?


Eddie Stern schreibt, dass genau die erwähnten neun dṛṣṭis bereits im sagenumwobenen Yogatext Yoga Korunta aufgezählt worden wären und zitiert dazu einen Sanskrit-Vers, den Jois von Krishnamacharya mündlich überliefert bekommen haben soll (Stern, 2019: 289, FN 2). Trotzdem stellt sich dabei die Frage, warum, wenn sich (der späte) Jois mit seinen neun Blickpunkten auf ein von Krishnamacharya gelerntes Zitat aus der verschollenen Yoga Korunta bezog, Krishnamacharya selbst sie offensichtlich nicht anwandte. Woher Jois sie also tatsächlich hat bleibt vorerst ungeklärt.

An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass den dṛṣṭis in Mysore in einigen Fällen eine unglückliche Rolle zukam. Im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal um Jois stellt sich natürlich die Frage, warum er die unzähligen Missbrauchsfälle, derer er beschuldigt ist (vgl. z.B. Remski, 2019: 20), inmitten eines vollen Übungsraumes begehen konnte. Hier wurde von ehemaligen SchülerInnen von Jois mehrfach darauf verwiesen, dass die dṛṣṭis den Fokus vollkommen vom Geschehen in der Umgebung abgelenkt hätten. Gregor Maehle erinnert sich zum Beispiel:

I am asking myself how I could not notice the extent to which these things were going on. I didn’t initially. We all focused on our drishti (focal point) and practised as if the devil was breathing down our necks, literally.
— https://chintamaniyoga.com/my-initial-response-to-karen-rains-interview-about-sexual-abuse/

Und Guy Donahaye schreibt:

There were several other factors which helped to obscure his actions: students use drishti during practice, the room soon became crowded, it was usually pretty dark, there was no place to easily observe the room from outside - so we were able to avert our eyes.
— http://yogamindmedicine.blogspot.com/2018/

Brauchen wir die dṛṣṭis denn überhaupt? Können wir nicht einfach die Augen schließen?

Eine sehr gute Frage. Zugegeben, geschlossene Augen ermöglichen auch nicht unbedingt mehr Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Allerdings ist das ja auch nicht das Ziel, und sollte in einem sicheren, einvernehmlichen Umfeld gar nicht nötig sein.

Krishnamacharya selbst betont explizit bei verschiedenen, hauptsächlich sitzenden Übungen wie vajrāsana, baddha konāsana und svastikāsana, dass die Augen geschlossen bleiben sollen, „(…) so that the mind may not be distracted“ (Mohan, 2012: 24). Und obwohl sich in Krishnamacharyas frühen Werken Referenzen zu dṛṣṭis finden, zeichnet sein langjähriger Schüler Shrivatsa Ramaswami ein anderes Bild vom Unterricht seines Lehrers ab den 1950er-Jahren. Ramaswamis Erinnerungen verdeutlichen auch, dass Krishnamacharya nicht nur in sitzenden Positionen die Augen schließen ließ:

Drishti is mentioned in many of Pattabhi Jois works, but for all those years I’ve been studied (sic!) with Krishnamacharya, he never mentioned about Drishti. He never mentioned about it. Only thing he will say, whenever you do Trataka you gaze at the lamp, and then internalize it. That’s about all. But whether you must look at the toe, and all that I find, that, kind of thing he never mentioned. Keep your head down, and your eyes closed. Most of the time our eyes are closed, we are following the breath. (…) Everything is happening inside, you don’t need to keep your eyes open.
— http://wildyogi.info/en/issue/huge-variety-krishnamacharyas-teachings-interview-srivatsa-ramaswami

Krishnamacharya setzte dṛṣṭis folglich wohl nicht mit dem 5. und dem 6. Glied von Patañjalis aṣṭāṅgas, pratyāhāra(Sinnesrückzug) und dhāraṇā (Konzentration) gleich, sonst hätte er sie wohl stärker in seine Praktiken integriert.

In seiner Yoga Mala von 1962 nennt übrigens auch Jois die Technik des Augen Fokussierens erst „drishti [sight, or gazing place]“ und kurz darauf ebenfalls „trataka [gazing]“ (1999: 40). Trāṭaka wird in der ca. auf das 15. Jh. zu datierendenHaṭhapradīpikā in den Versen II/30-31 zwischen verschiedenen Reinigungsübungen beschrieben und gilt dort ebenfalls als eine Reinigungstechnik für die Augen, und nicht explizit als Konzentrationstechnik:

31. Mit unbeweglichem Auge fixiere man aufmerksam einen recht kleinen Gegenstand, bis Tränen kommen. Dies wird von den Lehrern Trâtaka genannt. 32. Es verleiht Befreiung von Augenkrankheiten und ist die Türe für (das Fortgehen von) Trägheit usw. Sorgfältig muss das Trâtaka verheimlicht werden gleich einem Korb, der Gold enthält.
— Walter, 2009 [1893]: 52
 

Geschlossene Augen tragen zur Entspannung bei


Gard et al. stellen in ihrer Studie fest, dass ein mit Alpha-Wellen in Verbindung gebrachter Zustand entspannter Wachheit vor allem mit geschlossenen Augen eintreten kann. Es muss geübt werden, diesen auch mit geöffneten Augen herzustellen, dafür ist ein „defokussierter“ Blick mit gleichzeitiger gezielter Lenkung der Aufmerksamkeit nach innen vonnöten (Gard et al., 2014: 108). So ausgeführt können dṛṣṭis dann zum Beispiel bei gleichgewichtigen oder auch bei anspruchsvollen Stellungen, die schwer mit geschlossenen Augen auszuführen sind, dazu beitragen, dass ein Fokus auf innere Sensationen gehalten werden kann. Im Umkehrschluss heißt das: Gelingt dieser defokussierte Blick und der Fokus auf innere Sensationen nicht, tragen dṛṣṭis wohl eher nicht zur Entspannung bei.

Gard et al. betonen weitergehend, dass dṛṣṭis zwar bewirken, den Sehsinn einzuhegen, aber erst der zusätzliche Fokus nach innen und auf Körpersensationen bewirkt, dass auch die anderen Sinne von Ablenkungen abgezogen werden (2014: 81). Daraus erwächst dann die Fähigkeit, sich schnell von Ablenkungen loslösen zu können und zu einem Fokuspunkt zurückzukehren – laut den AutorInnen eine Top-down-Strategie. In Zusammenhang mit Stressoren wird eine stabile Aufmerksamkeit mit einer Reduzierung von Gedankenschweifen und von negativen Formen von Bewertung in Verbindung gebracht, indem die Achtsamkeit auf Körpersensationen beibehalten werden kann.

Die Wirkung von dṛṣṭis wird in Studien grade erst erforscht, geschlossene Augen hingegen werden bei Studienteilnehmern bereits gezielt zur Erhöhung somatosensorischer Aufmerksamkeit eingesetzt (vgl. Verrel et al., 2016: 205), und mit einer verstärkten Interozeption in Verbindung gebracht (Marx et al., 2003: 933). Das bedeutet, dass man sich mit geschlossenen Augen oft schneller und besser spüren kann.


Größere Unvoreingenommenheit durch dṛṣṭis?


Eine weitere interessante Studie zu dṛṣṭis setzt sich mit Referenzsystemen im Gehirn auseinander, die entweder egozentrisch oder allozentrisch sind, also sich auf das eigene Ich/den eigenen Körperstandpunkt oder aber auf den äußeren Raum beziehen (Klatzky, 1998). Auf der Annahme aufbauend, dass der Einsatz von Blickpunkten im oberen visuellen Feld verglichen mit dem unteren visuellen Feld mehr allozentrische Prozesse („allocentric referential processing“) hervorruft, vermuten Schmalzl et al., dass der Einsatz eines vielfältigen visuellen Feldes im Yoga die Fähigkeit fördern kann, das visuelle Umfeld mit weniger persönlicher Voreingenommenheit betrachten zu können:

Since YBP [yoga based practices (L.v.O)] employ both [Blickpunkte im oberen und im unteren visuellen Feld (L.v.O)], they may promote the dynamic integration of allocentric and egocentric reference frames, which may in turn facilitate the ability to monitor the visual environment with less personal bias.
— (Schmalzl et al., 2015: 104)

Das gleiche gälte dann allerdings nicht nur für die acht dṛṣṭis des heutigen Ashtanga Yogas, sondern auch schon für die zwei bei Krishnamacharya und dem frühen Jois elaborierten dṛṣṭis: Nāsāgra, der Blick auf die Nasenspitze liegt im unteren visuellen Feld, während brūhmadhya, der Blick zwischen die Augenbrauen, im oberen Feld liegt.


Und was ist das Fazit?


Mein persönliches Fazit zu diesem Wissen ist, dass man weder blind (😉) Regeln folgen oder Regeln unterrichten sollte, noch Regeln einfach ad acta legen sollte. Doch jede Methode, jede Therapie lebt davon, dass sie sinnvoll eingesetzt wird, und nur weil wir uns an etwas gewöhnt haben (zum Beispiel an den strikten Einsatz von dṛṣṭis oder aber an das ständige Schließen der Augen), heißt das noch nicht, dass es das Nonplusultra und die letzte Wahrheit ist.

Manche finden mit den dṛṣṭis endlich eine Methode, um ihre regen Augen führen zu können, für andere funktioniert das Augen Schließen hervorragend, um eine innerliche Konzentration aufzubauen. Und je nach Position (Stand, Sitzen, Liegen) macht das eine oder das andere vielleicht mehr oder weniger Sinn. Tatsächlich kann die Aktivität der Augen sehr viel verändern, wie übrigens auch Pina Bausch im Film Pina erstaunt feststellt (womit sie sich übrigens auf die Bewegungsrichtung der Augen hinter den geschlossenen Augenlidern bezog). Es gibt einfach kein Patentrezept für jede*n, aber es gibt ein paar Anhaltspunkte, nach denen man sich ausrichten kann!

Ich hoffe, ich habe euch ein paar solcher Infos geben können. Ich finde, wenn wir ein bisschen mehr darüber wissen, wo etwas herkommt, halten wir uns nicht stur an einer Tradition fest. Und wir vergessen nicht, dass auch "Traditionen", und vor allem auch die des (Ashtanga) Yogas, immer beweglich waren, auch wenn häufig behauptet wird, dass sie das nicht wären...

Ich würde sagen, mach’ Deine Erfahrungen und probier’ verschiedene Varianten aus! Und lass’ Dich überraschen, was an welchem Tag und in welchem Setting (alleine, in Gruppenstunden) vielleicht besser oder schlechter funktioniert – es ist nicht immer gleich, und wir sind nicht immer gleich!

Ich freue mich über Kommentare und Erfahrungsberichte.

Eure Laura

 

Stay tuned und folge meinem Blog, wenn dich diese Themen interessieren!


TITELBILD
Karl-Stéphan Bouthillette

LITERATUR

Gard, T., Noggle, J. J., Park, C. L., Vago, D. R., & Wilson, A. (2014). Potential self-regulatory mechanisms of yoga for psychological health. In L. Schmalzl & C. E. Kerr (Eds.), Neural Mechanisms Underlying Movement-Based Embodied Contemplative Practices (pp. 76-95). Lausanne: Frontiers Media.

Jois, P. (1999 [1962]). Yoga Mala. The Seminal Treatise and Guide from the Living Master of Ashtanga Yoga. New York: North Point Press.

Klatzky, R. L. (1998). Allocentric and egocentric spatial representations: Definitions, distinctions, and interconnections. In C. Freksa, C. Habel, & K. F. Wender (Eds.), Spatial cognition - An interdisciplinary approach to representation and processing of spatial knowledge; Lecture Notes in Artificial Intelligence 1404. Berlin: Springer Verlag.

Krishnamacharya, T. (2006 [1934]). Yoga Makaranda (L. Ranganathan & N. Ranganathan, Trans.). Madurai: Madurai C.M.V. Press.

Marx, E., Stephan, T., Nolte, A., Deutschländer, A., Seelos, K. C., Dieterich, M., & al., e. (2003). Eye closure in darkness animates sensory systems. Neuroimage, 19, 924-934. doi:10.1016/S1053-8119(03)00150-2

Mohan, A. G. (2012). Yoga Makaranda (Part II)

Remski, M. (2019). Practice and all is Coming. Abuse, Cult Dynamics, and Healing in Yoga and Beyond. New Zealand: Embodied Wisdom Publishing.

Schmalzl, L., Powers, C., & Henje Blom, E. (2015). Neurophysiological and neurocognitive mechanisms underlying the effects of yoga-based practices: towards a comprehensive theoretical framework. In L. Schmalzl & C. E. Kerr (Eds.), Neural Mechanisms Underlying Movement-Based Embodied Contemplative Practices (pp. 96-114). Lausanne: Frontiers Media.

Stern, E. (2019). One Simple Thing. New York: North Point Press.

Verrel, J., Almagor, E., Schumann, F., Lindenberger, U., & Kühn, S. (2016). Changes in neural resting state activity in primary and higher-order motor areas induced by a short sensorimotor intervention based on the Feldenkrais method. In L. Schmalzl & C. E. Kerr (Eds.), Neural Mechanisms Underlying Movement-Based Embodied Contemplative Practices(pp. 201-211). Lausanne: Frontiers Media.s

Walter, H. (2009 [1893]). Hatha-Yoga Pradîpikâ. Die Leuchte des Hatha-Yoga. Hamburg: Phänomen Verlag.

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Yoga in Der Spiegel: 1948/1949